Von Andree Meyer

Jeder von uns kennt das – man stöbert im Regal, in alten Unterlagen und plötzlich findet man etwas, das einen nicht mehr los lässt. So erging es mir in der vergangenen Woche. Eigentlich wollte ich in meinen Rezept-Unterlagen eine Kaltschale suchen, um diese heute für das Rezept der Woche zu präsentieren. Kurzerhand aber habe ich mich entschieden, heute das Rezept wegzulassen und über das zu schreiben, was mich so gefesselt hat. Es geht um einen wunderbaren Menschen, der vor 135 Jahren als Sohn einer Landwirtsfamilie im ostfriesischen Großwolderfeld geboren wurde – Wilhelm Brechtezende, bekannt unter dem liebevollen Namen „Oll Willm“.  Zunächst wäre natürlich zu erklären, was diese Geschichte mit dem Eat-and-Drink-Blog zu tun hat. Nun, es gab und gibt Menschen, die jeden Tag darum kämpfen müssen, genug zu essen zu haben – auch in Deutschland. Täglich gibt es Sendungen im Fernsehen, die die feine Welt der besonderen Küchen zeigen, dabei vergisst man leicht und gerne, dass es auf der Welt jede Menge Hunger und Elend gibt. Oll Willm erkannte das früh und half diesen Menschen, indem er ihnen von der Fülle abgab, die er auf dem Hof seiner Eltern vorfand und dann sein ganzes Leben lang für andere da war. Er wäre es wert, dass ich das hier auf plattdeutsch schreibe, jedoch sollen es auch die vielen Menschen verstehen, die unsere schöne Sprache nicht sprechen.

Foto: Gemeinde Westoverledingen

Oll Willm, mit bürgerlichem Namen Wilhelm Brechtezende wurde am 5. Juni 1886 geboren. Er starb im Alter von 80 Jahren am 09. Juli 1966. Diese und weitere Informationen sind frei im Internet zugänglich, eines jedoch, nämlich ein kleines Heft, geschrieben von Herta Welsch, einer Schriftstellerin aus Stiekelkamperfehn (Gemeinde Hesel), ist das wohl bewundernswerteste Werk über diesen Vertreter der Menschlichkeit, das 1986 zu seinem 100. Geburtstag herausgegeben wurde. Es hat die ISBN-Nr. 3-88761-030-X und ist wohl leider nur noch gebraucht zu kaufen. Die nachfolgenden Informationen und Geschichten über Oll Willm sind maßgeblich diesem Buch entnommen. Bildquellen sind die Webseite der Gemeinde Westoverledingen und die Webseite Erich Schönfeld. Da diese Informationen und Bilder veröffentlicht wurden, zitiere ich hier Bilder und Buchauszüge. Es sind aber auch eigene Bilder da. Nun aber genug mit den Formalien.

Kirche in Großwolde (Foto: Andree Meyer)

Auf dem Foto ist die kleine Kirche von Großwolde zu sehen. Hier wurde Wilhelm Brechtezende am 11. Juli 1886 getauft und am 05. April 1903 konfirmiert. Vermutlich (da konnte ich nichts genaues herausfinden) fand im Juli 1966 auch hier seine Trauerfeier statt. 1905 starb seine Mutter, was ihm wohl den Boden unter den Füßen wegzog. Sehr zum Leidwesen seines Vaters veränderte er sich sehr und er verzichtete darauf, ein wohlhabender Landwirt zu werden. Stattdessen wagte er es im damals sicher ausgesprochen konservativen Ostfriesland anders zu leben als die Menschen um ihn herum. Um die Jahrhundertwende herrschte auch im kleinen Großwolde große Armut. Wilhelm hatte das zu Hause nicht kennenlernen müssen. Auf dem Hof gab es genug. Also stand er nachts auf, melkte Kühe und brachte die Milch zu denen, die in Not waren. Er hatte ein zartes und empfindsames Wesen und er war ein sehr gläubiger Mann, dessen einziges Gesetz die Bibel mit dem alten Testament war. Ein anderes Gesetz gab es nicht für ihn. Sein Sonntag war der Samstag, am Sonntag, wenn die anderen in die Kirche gingen, arbeitete er wieder. Aus diesem Grund schloss er sich später den Sabbatisten an. Was ihm am meisten fehlte, war seine Mutter. Oft stand er an ihrem Grab und die Arbeit auf dem väterlichen Hof vernachlässigte er immer mehr, denn ihm gefiel es, anderen Menschen zu helfen. Als Lohn reichten ihm eine Tasse Tee und ein freundliches Wort. 

Wilhelm, auf Plattdeutsch kurz „Willm“, ließ sich Haare und Bart lang wachsen und sah bald genauso alt aus wie sein Vater, dem das Leben seines Sohnes natürlich nicht gefiel. Willm besann sich eines Tages auf die biblischen Worte „es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“. Er fand eine Frau in Bremen, die ihn am 22. Mai 1920, als die beiden sich das Jawort gaben, gleich zum Vater machte. Sie brachte zwei kleine Kinder mit in die Ehe. Aber es schien zwischen den beiden nicht so richtig zu funktionieren. Willm bot ihr wohl keinen Luxus, den sie bei der ganzen Arbeit erwartete. Und dann kam noch eins dazu. Er war immer sehr gut zu ihr gewesen, aber wohl mehr wie ein Bruder zu seiner Schwester. Und so verließ sie ihn irgendwann wieder, was ihm sehr zu schaffen machte, weil er es wohl nicht verstand.

Oll Willm sitzt Model (Foto: Homepage Erich Schönfeld)

Willm war nicht für das „normale Leben“ geboren. Irgendwann baute er sich seine kleine Hütte, in der er teilweise mit seinen Tieren lebte. Wie schlimm musste es für ihn gewesen sein, als die Nazis ihn zum „Sonderling“ abstempelten, ihm den Bart abrasierten und ihm den Kopf kahl schoren. Trotzdem hatte er das Glück, diese Zeit zu überleben, was nicht selbstverständlich für jemanden wie ihn war. Er lernte jedoch mit den Jahren immer mehr, dass er zum Leben nicht viel brauchte. So war er mit seiner kleinen Hütte zufrieden und lebte davon, dass Menschen ihn für seine Hilfsbereitschaft mit etwas zum Essen und Trinken oder auch Kleidungsstücken versorgten. Willm wurde über die Grenzen von Großwolde hinaus sehr bekannt. Er wurde ein so genannter „Böskupplooper“, also ein Botengänger. Er erledigte für andere Menschen Botengänge, Einkäufe oder auch Behördengänge. Man kannte ihn im ganzen Umkreis und er war für seine Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit überall bekannt. Durch sein markantes Auftreten – langer Bart, struppige Haare und immer dick bekleidet auf dem Fahrrad fahrend – sah man ihn schon von Weitem. Längst hieß er überall „Oll Willm“, wobei das „Oll“ nicht nur für „alt“ stand, sondern eher, verhalten mit Worten, wie wir Ostfriesen eben sind, wohl eher für den „guten alten Willm“.  Er zählte viele wohlhabende Leute zu seinen Gönnern, die ihn immer wieder gern mit Kleidungsstücken versorgten. Davon behielt er aber immer nur soviel, wie er tragen konnte. Was er nicht brauchte gab er denen, die es nötiger hatten, so seine Lebenseinstellung.

Oll Willm vor seiner Hütte (Foto: Homepage Gemeinde Westoverledingen und Buch Oll Willm von Herta Welsch)

Porträt (Feder/Kohlezeichnung von Erich Schönfeld – Quelle: Homepage Erich Schönefeld)

Der Böskupploper auf seinem Melkrad (Foto: Homepage Gemeinde Westoverledingen)

Oll Willm war überall bekannt. Der aus Berlin stammende und in Ostfriesland sesshaft gewordene Maler und Grafiker Erich Schönfeld hatte offenbar ein besonderes Verhältnis zu ihm. Oft porträtierte er ihn oder nahm ihn als Model mit in den Kunstunterricht. Und weil Willm so bekannt war, wurde sogar ein Schnaps nach ihm benannt, auf dem ein Bild von ihm zu sehen war. Der Schnaps kam bei den Leuten an. Man konnte ihn in der Gaststätte „Oll Wilm in Ihrhove trinken. Diese Wirtschaft wurde nach Oll Willm benannt. Wohl ungefähr bis Anfang der 1980er Jahre war das dann eine Grill-Gaststätte, also ein Imbiss. Dort gab es auch immer noch eine leere Schnapsflasche mit dem „Oll-Willm-Etikett“.  Es gab diesen Imbiss schon nicht mehr, als ich Mitte der 1980er Jahre öfter an dem Hinweisschild für dieses Lokal vorbei fuhr. Irgendwann habe ich dann ein Foto davon geschossen, weil ich irgendwie ahnte, dass es dieses große Hinweisschild, das jeder kannte, der von Papenburg nach Leer fuhr, nicht mehr lange geben würde. Und tatsächlich – wenige Wochen nach meinem Foto wurde es entfernt. 

Hinweisschild „Gaststätte Oll Willm“(Foto: Andree Meyer)

Es ist wohl eine orientalische Weisheit, die mir schon als Kind von meinen Eltern als Zitat von „Oll Willm“ verkauft wurde: „Was gut gegen Kälte ist – ist auch gut gegen Wärme. Diese Weisheit hat vermutlich auch damit zu tun, dass man im Sommer warm in Kleidung gehüllt schwitzt und der Wind dann die Haut kühlt. Nun ja, Körpergeruch hat wohl früher nicht so eine große Rolle gespielt. Als Willm im Alter von 62 Jahren ins Krankenhaus musste, weil er sich einen Bruch gehoben hatte, wunderten sich die Nonnen im katholischen Borromäus-Hospital als sie ihn entkleideten, dass doch sehr viele Kleidungsstücke da waren, bis endlich „Fleisch zu sehen war“. Nach über dreißig Jahren soll er nun erstmals wieder in einem Bett geschlafen haben. Viele Freunde kamen, um ihn zu besuchen und brachten natürlich auch Geschenke mit. Diese verteilte er, als er entlassen wurde, unter den Kranken. Der Abschlussbericht des Krankenhauses soll deutlich gemacht haben, wie angenehm ihn alle in Erinnerung behalten würden – und eine Rechnung? Die hat er nie bekommen. Gute Freunde müssen das für ihn erledigt haben. Er war eben nicht in einer Krankenkasse – wozu? Die brauchte er doch nicht. 

Ostern mit Oll Willm, dem Tierfreund (Illustration Erich Schönfeld / Homepage Erich Schönfeld)

Das Alter machte auch Oll Willm zu schaffen und man hatte ihm einen Vormund bestellt. Es war der Bürgermeister der Gemeinde. Als Willm eines Abends nicht aufzufinden war, suchte man ihn und fand ihn glücklicherweise lebend. Er brauchte jetzt einen warmen Platz zum Schlafen. Diesen fand er bei Freunden, die ihn gerne aufnahmen. Seinen 80. Geburtstag am 05. Juni 1966 feierte er wohl auch hier. Viele seiner langjährigen Freunde und Unterstützer kamen zu ihm, um ihm zu gratulieren. Auch die Zeitung war da! 

Im Jahr 2007, also mehr als 40 Jahre nach seinem Tod wurde durch Spenden finanziert vor dem Rathaus in Ihrhove das Oll-Willm-Denkmal aufgestellt. Wilhelm Brechtezende ist der bisher einzige Bürger der Gemeinde, dem ein Denkmal gesetzt wurde.

Oll Willm war bei Freunden untergekommen, die sich noch gut an die schwere Kriegszeit erinnerten, als er den Kindern etwas zu essen und Süßigkeiten brachte. Es war klar, dass er jetzt bis an sein Lebensende hier bleiben werde. Man sah ihm seine Eigenarten nach. So war für Ihn die Pellkartoffel das leckerste Essen der Welt und er versteckte gerne einige davon in seinen Jackentaschen. Aber das Ende war sehr nah und nur wenige Wochen nach seinem 80. Geburtstag verstarb Wilhelm Brechtezende, der Mann, der es wagte, anders als die anderen zu leben. Noch heute, fast 55 Jahre nach seinem Tod findet man sein sehr gepflegtes Grab auf dem kleinen Friedhof in Großwolde. Alles das zeigt, dass man diesen auf den ersten Blick doch sehr eigenartigen Mann gerne über Generationen in Erinnerung behalten möchte, einem Mann, dessen selbstlose Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit für immer mit seinem liebevollen, Rufnamen „Oll Willm“ verbunden sein wird.

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